Zwischenstand 2020: Was heißt es, sich im Forschungsfeld Theaterwissenschaft zu orientieren?
Editorial
Die letzte Ausgabe von Thewis erschien zu einem Zeitpunkt, an dem die Zukunft digitaler und allen zugänglicher Publikationsformen – und seien sie auch dem Theater gewidmet – sicherer erschien als jene des Theaters selbst, Ort der Vermischung und der Ansteckung, aber nicht der Heilung; zumindest nicht der medizinischen. Auch die nun vorliegende, neunte Ausgabe des Online-Journals der Gesellschaft für Theaterwissenschaft trägt, obwohl sie inmitten von Festivals, Premieren, Workshops und Tagungen erscheint, zu einer Zeit, in der die Uni-Campi wieder voll Leben sind, noch die Spuren der planetarischen Pandemie in sich, die sicherlich noch nicht vorüber ist, sich aber, angesichts zunehmender Immunisierung der Bevölkerung, abzuschwächen scheint, hoffentlich dauerhaft. Der vom Vorstand der Gesellschaft für Theaterwissenschaft herausgegebene Thementeil versammelt die Beiträge von Wissenschaftler*innen in der frühen Berufsphase, die ursprünglich beim für 2020 geplanten, dann ins Jahr 2021 verschobenen und letztlich doch abgesagten Treffen der Arbeitsgruppen der GTW in Bern vorgetragen werden sollten und nun – endlich – auf diese Weise die Öffentlichkeit erreichen.
Wir hoffen, dass die Leser*innen auch in der neuen und nur scheinbar altbekannten Lage die Ruhe finden werden, die Ausgabe zu lesen – vielleicht im Zug, vielleicht in einem Café, vielleicht auch einfach im Büro oder daheim. Die neue Situation bringt vielfältige Gesten und Sprechweisen hervor: Wir sehen Menschen das erste Mal, die wir nur als Bild kannten, wir erkennen die aus dem digitalen Raum vertrauten Gesichter hinter den Masken nicht. Und in Leichtigkeit und Euphorie, in Schwindel, Überforderung und Erschöpfung mischen sich immer wieder andere Gefühle: die Hilflosigkeit angesichts des brutalen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine, vielleicht ein schlechtes Gewissen über die recht unbeschwerte Rückkehr in den sonnigen mitteleuropäischen Alltag; die vage Ahnung, dass auch unser Frieden ein fragiler sein kann und unser Wohlstand erkauft ist durch einen in die multiplen Peripherien ausgelagerten Extraktivismus. Der Krieg gegen die Ukraine, der in jeder Hinsicht zu verurteilen ist, ist dabei keineswegs der einzige Krieg in diesem Moment auf diesem Planeten. Doch er ähnelt dem pandemischen Geschehen dadurch, dass Zustände, die wir Europäer für eine lange Zeit nur aus der Ferne zu kennen glaubten, nun näher rücken. Wir hoffen, dass in die bewundernswerte und notwendige Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine und mit den Menschen, die mutig oder angsterfüllt (oder beides) in ihrem Land bleiben, auch die vielen anderen Herumirrenden, Rechtlosen, Ausgeschlossenen einbezogen werden mögen, die zu dieser Stunde unter anderem auf Samos, Lesbos, Kos, Chios und Leros auf eine menschenwürdige Aufnahme in die Europäische Union warten. Eine Diskriminierung in Flüchtlinge erster und zweiter (und dritter) Klasse, sortiert nach geostrategischen Interessen, ist der historischen Verantwortung, die sich aus der deutschen und, auf verschiedene Weise, auch aus anderen europäischen Gewaltgeschichten ergibt,
keinesfalls angemessen.
Diese Ausgabe von Thewis ist die erste, die im neuen Open-Journal-Format erscheint, und wir danken Franziska Voß und Julia Beck vom Fachinformationsdienst Darstellende Kunst sehr herzlich für die sorgfältige Umsetzung dieser Umstellung und die in jeder Hinsicht großzügige Begleitung dieses Vorgangs. In diesem Zusammenhang danken wir auch dem Vorstand der GTW für die Unterstützung. Mit der Umstellung haben wir eine kleine Veränderung in der Struktur der Zeitschrift vorgenommen: Die Rubrik „Miszellen“ wurde durch die Rubrik „Essay“ ersetzt, um neben kürzeren Beobachtungen auch längeren Texten ein Forum bieten zu können. Der erste Beitrag zu dieser neuen Rubrik ist ein Aufsatz von Andreas Kotte, der von 1992 bis 2020 das Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern leitete. Wir freuen uns sehr, dass Herr Kotte den Text, der durchaus als ein provisorisches Fazit seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Rolle von Theater im Medienwandel verstanden werden kann, unserer Zeitschrift anvertraut hat. Laura Stracks Rezension von Rasmus Nordholt-Frielings Musikalische Relationen schließt diese Ausgabe ab. Wir wünschen anregende Lektüre!
Bochum und Hamburg, im Mai 2022
Jörn Etzold und Martin Jörg Schäfer